Der Mensch widmet sich bereits seit Tausenden von Jahren der Malerei und der Musik. Vor etwa 500’000 Jahren entstand unsere gemeinsame Spur in Afrika. Aber bereits die Neandertalerinnen und Neandertaler hinterliessen lange vor dem eigentlichen Menschen Spuren in Form von Linienzeichnungen, die auf ihre beeindruckende Menschlichkeit hinweisen.

Spuren, Fährten der Farbflächen oder Linien werden in der Lehre der Bildsprache (Semiotik) auch als indexikalisch bezeichnet. Das Eigentliche ist nicht das Abbild, sondern dessen Spur des Kunstschaffenden – Bewegung, Duktus, Empfindungen, Musik und vieles mehr. Wir Betrachtende werden so zum Rekonstruieren inspiriert.

Doch was haben Spuren künstlerischen Ausdrucks gemeinsam?

Fünf Kunstschaffende zeigen uns auf eindrückliche Weise, wie Spuren unterschiedlicher Stilrichtung, Materialität und Farbe entstehen und auf uns Betrachtende wirken können.

Michaela Schmid (Regensdorf)

«Spuren hinterlassen ist für mich die Transformation des Sichtbaren und Ausdruck meiner Befindlichkeit vor dem Motiv.»

Spuren hinterlassen bedeutet für die Malerin, das Wesen der sichtbaren Aussenwelt zusammen mit der eigenen Innenwelt in Form von Pinsel-Setzungen zum Ausdruck zu bringen. Die eigene Wahrnehmung mit all ihren Empfindungen vor dem Motiv zeigt sich unmittelbar in ihren künstlerischen Spuren. Indem jeder Pinselstrich auf den vorherigen reagiert, entstehen neue Formzusammenhänge. Je weiter sich die aus Flächen und Linien bestehenden Formen eines Objekts oder einer Figur von einer naturnahen Abbildung der Wirklichkeit entfernen, desto mehr wird der Betrachtende zum Rekonstruieren der ihm vertrauten Realität angeregt.

Michaela Schmid (1988*, Dachau) ist eine freischaffende Künstlerin, lebt und arbeitet in Rosenheim und Bad Aibling. Zuletzt als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Dozentin und Doktorandin am Institut für Bildende Kunst und Ästhetische Erziehung, Universität Regensburg.

Michaela ist inspiriert von der symmetrisch-dynamischen Gestaltbildung von Naturformen, vor allem die des Wachstums von Pflanzen: Für die Künstlerin kraftvolles, rhythmisches Wechselspiel aus Positiv- und Negativformen, welche sie auch aufgrund der Regelmässigkeit an den Charakter von Spuren erinnert.

Michaela Schmid (Luzern)

«Als Künstlerin bin ich sehr neugierig und gehe nie einen Pfad zweimal. Ich probiere mich gerne aus, lasse mich auf neue Materialien und Techniken ein.»

Im Mittelpunkt der künstlerischen Auseinandersetzung von Michaela Schmid (1987*, Luzern) steht der Dialog zwischen Form, Farbe, Raum und Dimension. Nach ihrer Ausbildung zur Modedesignerin studierte sie Kunst an der Hochschule für Kunst & Design. Heute arbeitet die Künstlerin mit verschiedenen Medien, darunter Skulptur, Objekt, Zeichnung, Malerei, Collage und Installation. Seit 2021 hat sie ihr Atelier im Bildzwang in Luzern.

Die Künstlerin Michaela Schmid versteht sich sowohl als Spurenleserin visueller Zeichen als auch Spurenlegerin. Ihre von Hand gezogenen und geformten Linien wirken in sinnlichen Kompositionen zu ihren zugeschnittenen Farbflächen. Materialität und Farben spielen dabei ebenfalls eine wichtige Rolle.

Michaela Schmid hinterlässt in uns Betrachtenden bewegende Spuren ihres künstlerischen Prozesses. Dabei lädt sie uns ein auf eine Zeitreise zum Ursprung ihrer Werke, ihrer Inspirationen, ihrer spontanen und intuitiven Empfindungen zum Zeitpunkt des Erschaffens. Die kleinste Einheit der Spuren visualisiert sich in der Malerei durch Farbflächen und im Zeichnen durch Linien.

Diese Linien-Skulpturen bezeichnet sie als “Space-Lines”. Die geschwungenen Rohre werden mit Harz gefüllt, das in 20 Minuten aushärtet. Dadurch bleibt das Spontane, Schnelle und Intuitive in der Skulptur und im Duktus als Spur der Künstlerin für uns Betrachter erhalten.

Jolanda Masa

«Oft sind es die kleinen Pinselstriche, die unser Herz berühren und Spuren hinterlassen.»

Mit ihrer Kunst möchte Jolanda Masa bewusst Spuren hinterlassen. Sie entstehen bei der Künstlerin meist intuitiv und enthalten sehr viel Persönliches. Spuren bedeuten laut Masa, wenn sie uns mit ihrer Kunst berühren könne: eine «Verbindung über die Kunst hinaus». Das Malen und Zeichnen begleitet Jolanda Masa seit ihrer Kindheit. Schon früh entflammte sich in ihr die Faszination für Farben. In ihrer künstlerischen Laufbahn erprobte sie viele gegenständliche, aber auch abstrakte Techniken mit unterschiedlichen Materialien wie Aquarell, Pastell, Acryl oder Öl.

Mit ihrer «Landscape Serie» begann Masa während des Lockdowns. Inspiration dazu findet sie in der Natur, auf Erden sowie im Himmel. Besonders in hektischen Zeiten sind sie eine Quelle der Inspiration, der Ruhe und der Energie: eine Art Meditation. Jolanda arbeitet mit vielen Schichten und teilweise mit Strukturen aus Marmormehl, Sand oder anderem. Mit diesen Strukturen legt sie bereits die ersten Spuren ins Bild. Zudem arbeitet sie mit Lasuren, flüssig oder deckend. Die vielen Schichten im Bild erzeugen im Kontrast feiner Linien eine Spur der Tiefe und Weite.

Jonas Deubelbeiss

«Meine Kunst soll den Menschen inspirieren: Yes, I love myself. Es geht darum, das darin enthaltene Potenzial zu entdecken und auszuleben.»

Jonas Deubelbeiss übersetzt performativ und mit viel Feingefühl audiovisuelle Schwingungen und Bewegungen in Farben und hinterlässt uns so kraftvolle und lebendige Spuren von Musik und Tanz. Diese Spuren werden für die Betrachtenden sichtbar und möglicherweise auch individuell hörbar. Dabei werden wir zum Rekonstruieren und Teilhaben seiner Musik- und Tanz-Spur inspiriert.

Mit seiner Kunst möchte Jonas Deubelbeiss Spuren hinterlassen, die auch kommenden Generationen dienen, sich darin wiederzufinden. Es geht ihm darum, Menschen zur Selbstliebe und dem darin enthaltenen Potenzial zu führen. Die Menschen sollen sich an seine positive und lebensfreudige Persönlichkeit erinnern.

Für ihn und seine Kunst gilt, dass die Betrachtenden selbst entscheiden können, wonach sie im Bild suchen möchten. Was sie darin finden, die Spur im nicht sofort Erkennbaren, ist allein den Betrachtenden vorbehalten. In stetiger Weiterentwicklung seiner Fähigkeiten, seines individuellen Stils und seiner Persönlichkeit steht er in engem Zusammenhang mit dem oben erwähnten Zitat. Die Wurzeln seiner Kunst gründen in der Graffiti-Szene. Als Autodidakt hat er sich und seine Fähigkeiten beständig weiterentwickelt.

Albert Merz

«Alles Leben hinterlässt Spuren.»

Spuren können als tatsächliche Spuren optisch sichtbar, aber auch seelischer Natur sein. Erlebnisse hinterlassen Spuren, sie prägen und beeinflussen uns. Aber wir Künstler schaffen und erschaffen Artefakte, die dann ihr Eigenleben haben und auch Spuren und Zeugen des Seelenlebens sowie der Lebensphilosophie des Künstlers sind.

Überall, wo erschaffen wird, bleiben Spuren zurück. Entweder als Werk oder als unbeabsichtigter «Abfall». Wobei Spuren oft «interessanter» sind als die so genannten fertigen Arbeiten, weil sie nur andeuten, vieles offen lassen und die Freiheit ermöglichen, persönlich zu interpretieren.

Albert Merz (1942*, Unterägeri): Seine Künstlerbiografie hinterlässt eine lange und beeindruckende Spur. Seine Spuren haben viel erlebt und zu erzählen, wenn sie denn zu uns sprechen könnten: Vom Primarschullehrer, Theaterschriftsteller, Kunstpädagoge (Studium an der damaligen Kunstgewerbeschule Luzern, drei Jahre unterrichtet), Hochschule der Künste in Berlin. In Berlin geblieben. Im Augenblick befindet sich der Künstler in einer Art Lebensbilanz, das heisst mit Blick auf seine Spuren zurück in positiver und negativer Art. Die Zeit sei ein harter Richter bei der Beurteilung von Bildern. Hinterfragen und Bilder-Übermalungen hinterlassen sichtbare Spuren der alten Bilder. Albert arbeitet fast immer gegensätzlich: So gehören beim Arbeitsprozess immer etwas klar Definiertes dazu, oft Geometrisches, Geplantes, gepaart mit Zufall (Farbgüsse) und spontanen (Kohlezeichnungs-)Aktionen.

Am liebsten würde sich der Künstler selbst die Frage gestellt bekommen: Wie viel Zentralschweiz ist in Ihren Werken enthalten?